An Weihnachten 2013 habe ich Opas Negative in Pergaminhüllen verpackt und geordnet; Teile von über 30 Mittelformatsfilme und noch mehr Kleinbildfilme - nach dem Krieg war er auf die Leica III umgestiegen. Es war auffällig, daß sich sein Stil über die Medienformate (9x6, 6x6, 4.5x6, Kleinbild) nicht änderte. Ebenso deutlich ist seine architektonisch geprägte Sicht. Als Enkel muß ich ihn kritisieren, viele unserer Verwandten (insbesondere Oma und Papa als Kind bzw. Jugendlicher) nur sehr klein und statisch in seine Bilder genommen zu haben, aber die meisten Bilder überzeugen mich dennoch. Auch die Bilder, die er wagte und verlor, sind sehr lehrreich, zumal ich oft Ähnliches auch schon probiert hatte. Insgesamt war die Werkschau für mich sehr lehrreich, denn obwohl meine Bilder (und meine Entwicklung) anders sind, ist Opas Sicht für mich vollgültig.
Ich hatte mir die Plackerei (Auspacken, Durchsehen, Sortieren, Filme Zusammensuchen, Datieren, Verpacken) vorgenommen, weil ich nach dem Negativ des Bildes unten suchte. Es zeigt Oma auf dem Balkon des Horber Hauses, vermutlich in der Rekonvaleszenzzeit nach der Geburt Jürgens Mitte 1937. Die Geburt war sehr schwer und wäre beinahe tödlich verlaufen wegen nationalsozialistischer Vorschriften von Hausgeburten ohne Ärzte.
Das Photo wurde mehrfach reproduziert und existiert in verschiedenen Größen und Beschneidungen in der Verwandtschaft. Ich fand es schon immer sehr gut, aber nachdem ich nun das Negativ genau kenne, habe ich keine Hoffnung je ein so gutes Bild hinzubekommen. (Zu meiner Erleichterung lag Opa mit dem nachfolgenden Bild desselben Films konzeptionell und technisch völlig daneben.)
Technisch gab es mehrere Schwierigkeiten
Stabilität: Opa hat diese Bild vermutlich aus der Hand geschossen, denn auf einem Stativ hätte er das zweite Bild sehr wahrscheinlich anders komponiert.
Belichtung: Der dynamische Umfang des Bildes ist enorm. Opa hat die Schatten so gut als möglich erhalten wollen und wahrscheinlich dachte er, die hellste Stelle des Bildes wäre das direkte Sonnenlicht auf die Gardinen rechts. Seine Belichtung fängt diesen dynamischen Umfang auch perfekt ein. Aber die hellste Stelle im Bild ist Omas Haut (wie jeder Personenphotograph sofort gesagt hätte). Ich nehme an, Oma war zu schwer auszumessen, aber er hätte besser noch eine Blende/Zeitstufe dafür hinzugenommen.
Schärfentiefe: Oma mußte im Fokus sein. Aus dem nächsten Bild, in dem er statt Oma Horb in den Fokus bekam, entnehme ich, daß er den Hintergrund auch gern scharf gehabt hätte. Das Fenster als Rahmen im Bild sollte natürlich erkennbar gezeichnet werden - was eine nahe Fokusebene erzwang. In diesem Bild hatte er konsequent und richtig entschieden, die Fokusebene auf die Person zu legen und soweit abzublenden, daß er den dynamischen Umfang (siehe oben) gerade noch von Hand schießen konnte.
Mir fällt diese Entscheidung immer sehr schwer, denn Schärfetiefenskalen verlocken dazu, zwei oder mehr Dinge akzeptabel scharf zu bekommen. Leider ist der Kompromiss zu oft erkennbar und schwächt die Aussage.
Verzeichnung: Die Linien sind ohne Nachmanipulationen gerade. Ich kenne die Kamera und ihren Suchmechanismus nicht, nehme aber an, daß er die Verzeichnungsfreiheit dadurch erreichte, daß er die Kamera gerade hielt oder auflegt.
Komposition: Mir gefallen die Verhältnisse zwischen Bildrand und innerem Fensterrahmen. Die meisten Reproduktionen (die er immer von Photofachgeschäften machen ließ) haben hier "nachgebessert".
Die Ecken sind bei komplexeren Kompositionen immer ein Problem (zumal die Sucher der 1930-er wenig Kontrolle erlaubten). Außer vielleicht der linken oberen hat er auch die Ecken sauber gelöst. Insbesondere läuft keine Diagonalline in ein Ecke, ein Paradigma, das er vermutlich kannte.
Film: Der Film war ein Perutz (120-er). Opa hat in der Vorkriegszeit ausschließlich markenlose Filme benutzt. Vielleicht hat er dem Film noch etwas mehr Belichtungsspielraum zugetraut (siehe Belichtungsproblem oben). In jedem Fall war der Film etwas Außergewöhnliches, wobei mir nicht klar ist, ob die Komposition dadurch angeregt wurde oder umgekehrt der Film für dieses Bild gekauft oder eingelegt wurde.
Zum Schluß noch ein Screenshot, der die Staubkornentfernung und ein paar Tonwertregler während der digitalen Aufbereitung zeigt. Ich halte nichts davon, daß Bilder so zu belassen sind, wie sie aus der Kamera (oder dem Labor) kommen. Umgekehrt - die Negative (bzw. digitalen Rawfiles) sollten interessant genug sein, daß man die nötige Entwicklungszeit gerne investiert! Bei diesem Bild bin ich mehreren Stunden auf meine Kosten gekommen. Und ich werde noch ein paar weitere Scans unternehmen müssen, denn Omas Stirn und Arme sind ausgeblasen in allen bisherigen Scans. Ich bin aber noch nicht überzeugt, daß analog keine Gradation mehr vorhanden ist.